Über die Werke

Sendbriefe

Sendbriefe

Die Briefe Jacob Böhmes, soweit sie uns hinterlassen sind, stellen naturgemäß kein bündiges Werk dar, das sich hier, wie die anderen Werke, zusammenfassend portraitieren ließe. Sie sind mit Sicherheit nicht vollständig, auch fehlen, um so einige Sätze und Anlässe der Briefe einschätzen zu können, jegliche Briefe AN Böhme. Sofern hier zahlreiche Briefe bereits herangezogen wurden, um biographische Hintergründe zu einzelnen Werken zu erhellen, werden sie hier nicht noch einmal besprochen. Es seien im Folgenden nur einige bemerkenswerte Eigenheiten Böhmes erwähnt, soweit sie in den Briefen wohl, nicht aber in den Schriften zu beobachten sind.

 

Die knapp 80 überlieferten Briefe Böhmes an 16 verschiedene, genannte und einige nicht mit Namen überlieferte Adressaten, spiegeln sowohl sein Sendungsbewusstsein als auch alltägliche Sorgen, Nöte und Freuden wider. Insofern ist die manchmal gebräuchliche Bezeichnung „Theosophische Send-Briefe“, wie in der Ausgabe 1682 bzw. 1730, teilweise irreführend. Sie zeigen etwas von dem wenigen, was wir vom Menschen Böhme wissen. Die Briefe sind unterschiedlich lang, enthalten kurze Notizen mit Bitte um Geld, um kleine Unterstützungen, manche sind zu kleinen Traktaten herangewachsen, die auch einzeln publiziert worden sind, so etwa die beiden Briefe an den Liegnitzer Zolleinnehmer Paul Kaym, die unter dem Titel „Unterricht von den letzten Zeiten“ gesondert publiziert und eigens im Rahmen dieser Einführungen besprochen werden.

 

Zahlreiche Briefe sind Antworten auf Fragen nach seinem Wissenserwerb und nach seiner Schreiblegitimation, und so mancher Brief an ihn wird die Schwerverständlichkeit seiner Schriften beklagt haben:

 

„Und ob ich wol könnte etwas zierlicher und verständiger schreiben, so ists doch die Ursache, daß das brennende Feuer ofters zu geschwinde treibet, deme muß die Hand und Feder nacheilen, dann es gehet als ein Platzregen, was es trift das trift es (…)“ (An Abraham v. Sommerfeld, Briefe 10;45) Dieser Brief erzählt überhaupt sehr anschaulich von Böhmes Schreibmotivation und enthält Aussagen zu seinem Schreibverbot von 1613.

 

Mit dem Entschluss Böhmes, seine Gedanken niederzuschreiben, bewies er damals großen Mut. Durch sein Schreiben durchbrach er soziale Schranken. Er als akademisch Unkundiger verkehrte plötzlich mit Gelehrten, er als Schuster verkehrte vor aller Augen mit Adeligen, und das ermöglichte ihm sein Schreiben. Schrift macht die Menschen gleich, wenn sie nur lesen und schreiben können, und wenn ein Interesse sie verbindet, ohne sich verbindlich zu organisieren. Eine konfessionelle Gruppe, eine Sekte oder nach außen hin auftretende Gemeinschaft waren Böhme und seine Freunde nicht, sie waren kein akademisch wirksames Forum, sie waren kein Wohltätigkeitsverein – ja es ist auffallend, dass Böhmes religiöse Linie von keinerlei konkreter caritativer Idee oder Maßnahme getragen war. Böhmes Kreis, so locker er gefügt war, können wir nach unseren Begriffen als eine religiöse Selbsthilfegruppe von Männern verstehen, beinahe ein Männerbund, in dem – mitten im Dreißigjährigen Krieg – eine Lieblichkeit und eine im Pietismus späterer Zeit weitverbreitete Jesus-Minne begann den Stil unter ihnen zu bestimmen. Dies können wir bei den Briefadressaten mangels Textquellen nicht nachweisen. An Böhmes je nach Adressat sehr unterschiedlichen Stilebenen lassen sich unterschiedliche Ebenen des Freundes-Status durchaus ablesen.

 

Man spürt in diesen Briefen, wie eine ideelle Gemeinschaft von Männern ganz unterschiedlicher sozialer Zugehörigkeiten geeignet ist, soziale Barrieren zu überwinden, ohne sie freilich ganz zu beseitigen. Viele Briefanfänge gegenüber Standespersonen geben Demutsgesten wieder, wie sie im Barock üblich waren, die Briefe gegenüber Standesgleichen beginnen lockerer und ohne Umschweife. Briefe an viele Adressaten nehmen im Verlauf der Jahre an Vertrautheit zu, viele wahren bis 1624 die Distanz. Manche werden geradezu intim, manchen merken wir an, dass sie in Not, Hast, in unterschiedlicher Dringlichkeit verfasst wurden. Zahlreiche Briefe beantworten Leserfragen, so beispielsweise jene zur „Qualitätenlehre“ (an Gottfried Freudenhammmer, Münzmeister zu Glogau, Brief 47). Die Angriffe der Kirchenoberen gegen ihn finden in den Briefen ihre Reaktion gegenüber Freunden, die er um Hilfe bittet, oder um Lebensmittel (vgl. an Carl von Endern, Brief 73). Briefe waren auf den damaligen Postwegen vor ungebetenen Mitlesern nicht immer sicher. Daher klingen wohl viele Anspielungen auf die Verfolgungen etwas verklausuliert, wenn er pauschal vom „Teufel“ spricht, und er den Stadtpfarrer von Görlitz meint, Gregor Richter.

 

 

 

Aus den Briefen an Christian Bernhard

Die meisten seiner Briefe richten sich an den zum Freund gewordenen Christian Bernhard, einem Zolleinnehmer aus Sagan, der sich nach seiner göttlichen “Wiedergeburt“ offenbar bereit erklärt hatte, Schriften Böhmes zu kopieren. (vgl. Briefe 9, 1) Ihn kennt Böhme durch die Vermittlung Balthasar Walthers (vgl. Briefe 26; 2). Ihm besonders gilt eine zarte Männerfreundschaft, die einem aufgeht, wenn wir die Briefe an diesen jungen Mann en bloc hintereinander lesen. Selbst wenn die Adressaten nicht immer gesichert scheinen, die überwiegende Zahl der Briefe an ihn nehmen im Verlauf an Vertrautheit zu, auch an Innigkeit, der wir bei Böhme sonst nicht begegnen.

 

„Daß ich euch aber in etlichen Puncten schwer verständlich bin in meinen Schriften, ist mir leid, und wünschte, ich könnte meine Seele mit euch theilen, daß ihr möchtet meinen Sinn ergreiffen.“ (Briefe 4, 25)

 

„Ich lasse mir aber genügen: so ich mein Kräntzlein mag von dieser Welt mit in mein Vaterland heimbringen, so hab ich Ehre, auch Reichthums genug: die Schlange muß doch des Weibes Samen in diesem Leben immer in die Fersen stechen; im Creutz und Trübsal müssen wir neu geboren werden; dann wollen wir mit Christo leben, so müssen wir auch mit Ihm verfolget werden und mit Ihme sterben, und in Ihm begraben werden, auch in Ihm aufstehen, und ewig in Ihm leben, seinem Bilde gantz ähnlich werden, und allein unter seinem Purpur-Mantel zu Ihme kommen; Er muß uns nur verdecken, sonst sind wir in des Teufels und Antichrists Netze, und stehen mit der Babylonischen Hure gantz nackend, und beschämet vor GOttes Angesicht.“ (Briefe 9, 4)

 

Zweimal wird gegen Frauen argumentiert, eingebettet in Zitate aus der Bibel, zunächst 1 Mose 3;15, wo der Herr zur Schlange spricht: „Und ich will Feindschaft setzen zwischen dir und dem Weibe und zwischen deinem Nachkommen und ihrem Nachkommen; der soll dir den Kopf zertreten, und du wirst ihn in die Vers stechen.“ Des Weibes Same (bei Böhme) entspricht dabei den „Nachkommen“ in neuerer Übersetzung. Diese Reihe der aus dem Paradies vertriebenen Geschlechter wird unterbrochen durch die Wiedergeburt im Zeichen Jesu Christi, so Böhme in diesem extrem verdichteten Text, der gegenüber Bernhard sehr werbend klingt. In jedem Fall versteht Böhme unter der Wiedergeburt (siehe zum Text Böhmes „Von der Neuen Wiedergeburt“) offenbar weniger eine völkerumfassende Christenheit, sondern einen unter wenigen Menschen recht exklusiven Bund. Ein Purpurmantel bedeckt die Brüderschaft der Wiedergeborenen, die bei der Offenbarung somit geschützt werden. Der Bibelbezug scheint nicht eindeutig, er stammt in jedem Fall aus der Offenbarung Kap. 17 – 19.

 

Böhme drängt seinen Freund: „aber ihr müst die Anfechtung erdulden und bestehen, und der fleischlichen Lust nicht Raum geben“ (Briefe 9; 5).

 

„…es ist eine Zeit sich selber zu suchen, halte es niemand für Schertz oder er fället dem grimmigen Zorn GOttes heim, und wird im Rachen des Grimmes ergriffen. Nur demüthig unterm Creutze eine kleine Zeit, der Maien wird seine Rosen wol bringen, und der Lilien Zweig seine Frucht.“ (Briefe 13; 4f)

 

Der Brief vom 29. 10. 1621 an Christian Bernhard beginnt folgendermaßen:

 

„Ehrenvester, in Christo vielgeliebter hoher Freund, ich wünsche euch einig und alleine, was meine Seele stets von GOtt wünschet und begehret, als rechte wahre Erkentniß GOttes in der Liebe Jesu Christi, daß euch der schöne Morgenstern möchte stets aufgehen, und in Euch leuchten durch dieses Jammer-Meer zur ewigen Freude: Und vermahne Euch in der Liebe Christi aus meinem hertzlichen Wolmeinen, ja auf angefangenem Wege in Christi Ritterschaft fortzufahren und beständig zu bleiben, daß das Paradies-Bäumlein möge wachsen und zunehmen, ihr werdet eure edle Frucht hernach wol sehen, und ewig geniessen, und euch genugsam damit ergötzen; ob sie gleich eine Zeitang mit dem irdischen Acker verdecket wird, so wächst doch das edle Gold ohne alles Aufhalten.“ (Briefe 21;1)

 

Kein anderer Adressat Böhmes wird mit solch christlich-verquerer Semantik bedacht wie dieser, und solche Freundesliebe wird uns nur in den Briefen offenbar, da sie nicht, wie die Schriften, in kopierter Form in den Kreisen der Wiedergeborenen zu kursieren drohten, sondern nur für einen Menschen geschrieben wurden. Würden sie dennoch von Dritten gelesen, so schützt ihr wahres Anliegen eine Verbrämung durch christlich-poetische Terme. Morgenstern und mehr noch der Paradieses-Baum können für uns gar nicht anders denn als Phallus-Symbole gelesen werden, und es steht sehr zur Frage, ob sie dies auch im 17. Jahrhundert gewesen sind, und mit welchem Grad der Bewusstheit.

 

Die Antithesen der Böhmeschen Erotik lauten irdische Fleischeslust („Jammer-Meer“) versus himmlische Liebe. Selbstverständlich können wir von einer Synthese, als welche wir uns in späteren Zeiten die Homoerotik vorstellen können, keineswegs in manifester Weise sprechen, wenn überhaupt auch in indirekter Form. Doch eine hochsublimierte Brüderschaft im Geist eines gemeinsamen Gottes, Jesus Christus, könnte sich in einer christlich entsemantisierten Bilderwelt verbergen und zugleich entladen. Schreiben wäre – auch! - ein erotischer Akt bei Böhme, seine Schriften scheinen für ihn und seine Freunde gleichsam libidinös besetzt. Das zeigt auch folgender Absatz des gleichen Briefes an Christian Bernhard:

 

„Herr Caspar Lindner, Zöllner zu Beuthen, und des Rathes, ist auch ein Liebhaber; so er etwas würde begehren, so thut ihr wol, daß ihr ihm was leihet, er pfleget es nicht lange aufzuhalten. Diese Schriften sind weit und ferne in viel Länder, bey Hohen und Niedrigen, auch theils hochgelehrtern Leuten bekannt und erschollen, GOtt richte sie zu seinen Ehren.“

 

In einem undatierten Brief, den Werner Buddecke auf Februar 1621 schätzt, (vgl. Urschriften II, S. 463) kündigt Böhme seinen Besuch bei Christian Bernhard an, und verspricht Interesse auch an dessen Schriften:

 

„Weil ich dann von Herrn (Balthasar – TI) Waltern vernommen, wie daß ihr euer Leben in Gottesfurcht gerichtet, und mir auch eure Schriften zeigen, daß ihr eine Begierde nach Göttlicher Weisheit, und nach dem Brünnlein Christi habet, so bin ich desto kühner euch zu schreiben, und desselben Weges zu erinnern, dann es bringet mir eitel Freude, so ich GOttes Kinder vernehme.“ (Briefe 27; 6)

 

Am Ende des Briefes warnt er seinen Briefpartner vor der Hure Babylon, die sich als lockende Jungfrau gibt, und schließt:

 

„Lieber Freund Christian, lasset uns ja die Augen recht aufthun, daß wir sie lernen kennen und vor ihr fliehen, sonst möchten wir ihre Plage und Straffe bekommen: es ist kein Schimpf, es kostet Leib und Seele, das höchste Gut. Und thue euch der Liebe Jesu Christi empfehlen.“ (Briefe 27; 11)

 

Die Passage liest sich als recht zudringlich. Immerhin redet Böhme ihn, der ihn noch nie gesehen hat, beim Vornamen an, wirbt um geistige Liebe und warnt vor einer Prostituierten. Im Mai 1621, in der Briefausgabe nachträglich als Nummer 68 eingefügt, steht ein Besuch bei Christian Bernhard in Sagan unmittelbar bevor, und Böhme schreibt ihm so kurz wie unsicher:

 

„Emanuel! Herr Christian, guter Freund. Ich füge euch dieses, nachdem ich ietzo meiner Gelegenheit nach alhie bin, daß ich euch gerne möchte ansprechen wegen unserer Kundschaft; weiß aber nicht, wie es euch gefällig oder gelegen seyn möchte. Ich wünschte mit euch in Geheim zu seyn auf ein kurtzes Gespräche: so euch dasselbe gefällig wäre, so werdet ihr ohne Zweifel Mittel dazu wissen. Wollet auch in meiner Gegenwart meines Namens und Person geschweigen; es wäre dann Sache, daß er den Euren zuvorn bekannt wäre, und sie dieses begehrten.                                        J.B.“ (Briefe 68; 1)

 

Warum das Treffen mit Christian Bernhard geheim zu sein habe, geht aus den Kontexten (der Ausgabe der Werke 1730 sowie der Urschriften (vgl. Buddecke II S. 462) nicht hervor. Da das Jahr 1621 für Böhme noch ohne Verfolgungen durch den Görlitzer Oberpfarrer verlief, diese begannen  erst zu Anfang 1624, bleibt nur die Feststellung, dass Böhme sie beide mit dem Inkognito schützen wollte, warum genau auch immer. Es war die Zeit, in der er sich bereits in größeren Kreisen aufhielt, die ersten Polemiken gegen Balthasar Tilke über das Thema der calvinistischen Gnadenwahl (siehe dort) schrieb, sowie gegen den religiösen Libertin Esaia Stiefel (siehe dort).

 

Auch entstand in diesen Wochen seine kurze Schrift von den „Vier Complexionen“, in der er sich als Melancholiker beschrieb (März 1621 – siehe dort):

 

„Die melancholische Complexion grübelt viel und das ohne Ausweg, sie ist „finster und dürre, giebet wenig Wesenheit, sie frisset sich in sich selber, und bleibet immer im Trauer-Hause; wenn gleich die Sonne in ihr scheinet, ist sie doch in sich traurig, bekommt ja von der Sonnen Glantz was Erquickung; aber in der Finsterniß ist sie immer in Furcht und Schrecken vor GOttes Gericht. Hier mercke ein traurig Gemüthe.“ (Complexionen 8)

 

„Vor der Zeit meiner Erkenntniß war mir eben auch also, ich lag im harten Streit, bis mir mein edles Kräntzlein ward, da lernete ich erst kennen, wie GOtt nicht im äussern fleischlichen  Hertzen wohne, sondern in der Seelen Centro, in sich selber.“ (Complexionen 79)

 

Vielleicht befand Böhme sich in dieser melancholischen Stimmung, in die er ganz gewiss hineingeraten sein konnte, obwohl ja die Erleuchtungserlebnisse 1621 mehrere Jahre zurücklagen, glaubt man seinen Ausführungen, nämlich 1600, 1612 und erneut zu Beginn der zweiten großen Schreibwelle, um 1619. Erleuchtungen und Erlebnisse platonischer Liebe oder Ganzheitserlebnisse verlangen nach Mitteilung, wenn nicht nach Wiederholung, und nach Gleichgesinnten.

 

Christian Bernhard gehörte für Böhme offenbar zu den ganz wenigen, die diese Sprache der Erlösung, der Wiedergeburt nach einem Leben in melancholischer Einengung verstanden haben, und die sich selber für berufen oder erlöst hielten, der Welt und ihrer Zwänge in Alltag, Beruf, und ihren Paradigmen des 17. Jahrhunderts zu entsagen. Diese Entsagung fand nicht mehr buchstäblich statt, man ging nicht mehr in Klöster zu den Mönchen, schon gar nicht im Protestantismus, der andere, libertinäre Formen der Abweichungen und der Weltflucht zuließ: einen geistig-erotischen Endzeitglauben, der die Öffentlichkeit fürchtete und sich literarisch auslebte.

 

Der Brief vom 12.11.1622, über ein Jahr später, klingt äußerst formal und betrifft zahlreiche Alltagsdetails, bei denen es um die Befüllung von Kornsäcken geht, um zahlreiche Fragen der Werkkopien, der Brief liest sich pragmatisch, und nur am Schluss fragt er seinen Freund nach seinem Befinden.

 

Es erfolgt ein Sprung von elf Monaten, in denen uns kein Brief an Christian Bernhard überliefert ist, und der nächstfolgende, vom 13.10.1623, hat es in sich. Böhme berichtet darin seinem Freund vom Erleuchtungserlebnis eines Dritten, der den Durchbruch zu Jesus Christus ekstatisch erlebt habe, und Böhme beschreibt seinem Freund ausführlich,

 

„(…) wie sich dann der eine nach seinem irdischen Welt-Wesen selber verschmähet und seinen gewesenen Wandel vernichtiget, welcher auch also tief ist in die Gelassenheit ersuncken und in die Busse, daß er sich unwürdig geachtet sein Gebet vor GOtt auszuschütten, sondern als todt und all zu unwürdig geachtet, und in GOttes Erbarmen gefallen, was der durch und mit ihme thun wolle, daß Er selber durch ihn wolle beten und Busse wircken, er sey zu solcher Erhebung oder Begehrung zu unwürdig, darauf ihme alsbalde die Göttliche Sonne eingeschienen, und durch seinen Mund bey drey Stunden anders nichts gesprochen, als nur solche Worte: GOtt, Koth, GOtt, Koth! Und sich vor GOtt als Koth geachtet, in welchem Aussprechen ist in ihme die Göttliche Sonne der Freudenreich und grossen Erkentniß aufgegangen, und ihme sein Hertze und Gemüthe gantz umgedrehet und erneuert.

 

Darauf ist er zu mir, neben einem dergleichen Menschen kommen, da ich solchen Motum (solche Bewegtheit – TI) an ihm gesehen, und mich des hoch erfreuet, dieweil er durch mein Büchlein von der Busse ist darzu gebracht worden.“ (Briefe 45; 4f.)

 

Dieser bewegte Mann – es ist Johann Siegmund von Schweinichen – soll also von der Lektüre von Böhmes Schrift über die „wahre Buße“ derart ergriffen gewesen sein, dass er in oben geschilderte Ekstase geriet und – das müssen wir uns ausmalen – drei Stunden lang die beiden obgemeldeten Wörter austieß, womöglich im Licht der ins Zimmer fallenden Sonne und in Barockperücke. Der schlesische Adelige mag sich gestisch bei dem Wort „Gott“ in fistelnder heller Stimme hochgereckt haben, und bei dem anderen Wort mag er sein Gesicht langgedehnt jammernd auf den Boden gedrückt haben. Nur mit einem Trance-Erlebnis ist diese Szene zu vergleichen, und etwas Unheimliches liegt in ihr. Befremdend scheint, dass Böhme  - mit wem noch, wird nicht gesagt – offenbar daneben stand und nicht numinos ergriffen schien, sondern lediglich erfreut war, weil dies alles sein eigenes Büchlein auslöste. An Eitelkeit schien es ihm nicht gemangelt zu haben. Siegmund von Schweinichen war es denn auch, der kurz danach die beiden Schriften „Von wahrer Gelassenheit“ und „Von wahrer Buße“ bei einem Görlitzer Drucker unter dem Titel „Der Weg zu Christo“ als Buch herausgab. Dieses knappe Buch war das einzige zu Lebzeiten Böhmes erschienene Druckwerk, und es hatte seinem Autor viel Verdruss bereitet.

 

Die Briefe zeugen davon. Längst ist Anfang 1624 das Büchlein in Görlitz erschienen, erregt es besonders den Ärger des Pastors Gregor Richter, der

 

„… gantz erzürnet ist, und gleich wie rasende und tolle worden, mit Fluchen, Schmähen, Lügen und Morden, daß ich kräftig sehe, daß dieses Büchlein dem Teufel gantz zuwider ist, und mich darum gerne wollte ermorden (…).“ (Briefe 51;2)

 

Der Streit um das Werk „Der Weg zu Christo“ wird eskalieren, der Görlitzer Mob lässt sich von dem Oberpfarrer Gregor Richter aufhetzen, auch dies eine ganz spezielle, fast persönliche Geschichte zwischen jenem und Jacob Böhme. Die Briefe an Christian Bernhard in Sagan bleiben von dieser letzten Lebensperiode unberührt, sie sind das zärtliche Dokument einer - im Barock möglichen? üblichen? Freundschaft zweier Männer, die sich in rauher Zeit zurufen: „(…) ich will Euer nicht vergessen, und verschulden uns in Liebe (…).“ (Briefe 70;2)

 

 

 

Werbebriefe

Abgesehen von Briefanlässen zu Alltagsfragen, Reisen, Berichte über Truppenbewegungen, Tauschvorschläge bei Dingen des alltäglichen Bedarfs, der Distribution seiner Manuskripte unter den Freunden, enthalten längere Briefe mehrfach Rechtfertigungen  und Darstellungen über sein Gesamtwerk, soweit es zum jeweiligen Brieftermin bereits vorliegt. (vgl. z.B. Brief 12 an Caspar Lindner in Beuthen, Himmelfahrt 1621). Diese Briefe dienen weniger der Rechtfertigung, sondern der Werbung um Anerkennung und neue Freunde. Hat die Philologie die Briefe mehr als Quellenhinweise zur Entstehung der Werke genutzt, haben sie darüber hinaus auch einen Eigenwert in dem, was die Schriften selber nicht leisten können: die persönliche Ansprache und Überzeugungsarbeit. Ein gutes Beispiel liefert der Brief Nr. 16, an Christian Steinbergen vom 3. Juli 1621.

 

Er trägt eine Überschrift: „Von der Gnaden-Wahl und ewigen Rathschlusse GOttes.“ Vorausgegangen ist ein Gespräch unter einigen Männern Anfang 1621, in dem sich Christian Steinberg zur Prädestinationslehre des Calvinismus bekannt haben muss, eben jener schicksalhaften „Gnadenwahl Gottes“, schon vor der Geburt eines Menschen festgelegt zu haben, ob dieser erlöst werde oder verdammt sei (vgl. die Ausführungen zu Böhmes Werk über bzw. gegen die „Gnadenwahl“). Böhme muss versprochen haben, ihm, Steinberg, zu dem Thema ausführlich zu schreiben. Dies geschieht nun mit dem Brief.

 

Die weit verbreitete Gegenthese zur Prädestination, bei der ein Mensch unfrei dem determinierten Lauf der Dinge ausgesetzt sei, setzt auf die freie Entscheidung des Menschen, sich für das Gute oder das Böse selbst zu entscheiden. Sie setzt ferner auf die Möglichkeit, dass die Selbstfindung ein gemeinsames Werk unter Freunden gleichen Sinnes sei:

 

„Nicht schreibe ich dem Herrn darum, ihn zu meistern (zu bevormunden – TI), sondern brüderlicher Weise mich mit ihme zu ersuchen und zu ergetzen, auf daß unser Glaube und Zuversicht gegen (gegenüber – TI) GOtt in dem Herrn gestärcket werde, dann wir sind allerseits nur Menschen, und halten uns billig in Lehren und Leben gegeneinander als Glieder, dann wer seinen Bruder im Geiste Christi findet, der findet sich selber.

 

Die Viele der Disputanten ist kein nütze, sie machen nur Verwirrung: Gehet mit mir in meinen Schriften aufs Centrum aller Wesen, so werdet ihr den Verstand (den Sinn – TI) in Guten und Bösen sehen, und aller dieser Irrthüme erlöset werden: Dann ihr werdet also viel in meinen Schriften finden, daß dem Gemüthe wird Genüge geschehen; so fern das Centrum aller Wesen ergriffen wird, so gehet eine solche Freude im Gemüthe auf, welche aller Welt Freude übertrifft, dann es lieget der Edele Stein der Weisen darinnen: und wer ihn findet, achtet ihn höher als die äussere Welt mit aller ihrer Herrlichkeit.“ (Briefe 16; 6f.)

 

Diese Werbung zum Lesen der Schriften verspricht nicht nur erhellende Lektüre, sondern ist mit der Erlösung selbst konnotiert. Die Schriften zu lesen, wirkt dabei wie eine Initiation, eine Zeremonie mehr denn als ein einfacher Rezeptionsvorgang. Diese Werbung, eine kleine Autoreneitelkeit wohl auch, zielt nicht auf den Erwerb der Bücher, sondern auf die Erlösung durch Lektüre. Die Anzahl der handgeschriebenen und manuell kopierten Exemplare steht dabei in einem direkten Verhältnis zur Anzahl der Freunde. Die Exklusivität dieses intimen Rezeptionszusammenhangs sichert vor Angriffen von außen, was Böhme in dem Augenblick bestätigt fand, als sein erstes Druckwerk in Görlitz zu kursieren begann, aber mehr noch:  Die Exemplare seiner Schriften hatten Kult-Status, und die kommunikative Infrastruktur dieses Rezeptionskreises bildet sich in den Briefen ab. Das, schließlich, könnte auch ein Grund sein, warum die kontextuellen Briefe AN Böhme nicht überliefert scheinen: weil in seinen der Meister spricht.

 

Zur Briefedition in Band 9 der Faksimileausgabe von 1730 sollten die ungedruckten Briefe und Passagen in den Urschriften, Band II, hinzugezogen werden. In den Anmerkungen hat der Herausgeber, Werner Buddecke, diverse Korrekturen zur Datierung zahlreicher Briefe vorgeschlagen.
Die Lebenschronik auf unserer Homepage informiert in Stichworten über die Hintergründe einzelner Briefe, soweit deren Entstehungsdaten bekannt sind.

siehe auch: Briefe an Paul Kaym, Unterricht von den letzten Zeiten: Umfang 40 Seiten, Sämtl. Schriften Band 5. Die Darstellung dieser beiden langen, zum eigenen Traktat gewordenen Briefe wird hier nachgereicht.

 

Send-Briefe: Umfang: 262 Seiten, Sämtl. Schriften Band 9.

Zum Teil überliefert in Böhmes eigener Handschrift (Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel und Universitätsbibliothek Breslau), ansonsten in (zum Teil mehreren) Abschriften, eine frühe Abschrift zweier Briefe befindet sich im Bestand der Oberlausitzischen Bibliothek der Wissenschaften. Zur Zeit beste Ausgaben: Jacob Böhme: Die Urschriften. Herausgegeben von Werner Buddecke. Erster Band. Stuttgart-Bad Cannstatt: Friedrich Frommann Verlag, 1963 [1. Brief an Paul Kaym]. Jacob Böhme: Die Urschriften. Herausgegeben von Werner Buddecke. Zweiter Band. Stuttgart-Bad Cannstatt: Friedrich Frommann Verlag, 1966. Jacob Böhme: Sämtliche Schriften. Herausgegeben von Will-Erich Peuckert/August Faust. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1730. Neunter Band. Stuttgart: Friedrich Frommanns Verlag, 1956 [fast vollständiger Abdruck der Briefe].

 

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